Jammern, motzen, informieren – das Stadtgespräch

Das „Stadtgespräch“, das immer von der Mainpost und vom Rudolf A. Schröder-Haus veranstaltet wird, soll eigentlich Themen aufgreifen, die dem Bürger unter den Nägeln brennen. Doch anscheindend interessierte das Motto „Wählers Wille oder ein blaues Wunder?“ niemanden, oder die Bürger haben sich schon damit abgefunden oder es wussten wenige von der Veranstaltung. Auf jeden Fall war der Saal im RAS-Haus nur mäßig gefüllt, ca. 50 Gäste haben sich dort gestern Abend eingefunden.
Das Podium war bunt gemischt. Die gestern frisch in den SPD-Parteivorstand gewählte Susanne Kastner saß dort mit ihrer großen Koalitionsgenossin Barbara Stamm als Vertreterin der CSU. Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet war als Politikwissenschaftlerin anwesend, Bert Unckell als Vertreter des Bürgerkonvents und als Medienverteter Folker Quack von der Mainpost. Moderiert wurde der Abend von Andreas Jungbauer, ebenfalls von der Mainpost.

Es ging an diesem Abend eigentlich um die letzte Wahl und darum, wie die neue Regierung sich gebildet hat und die Frage, ob der Wähler das wirklich so alles gewollt hat. Ist der Wähler nun enttäuscht? Wie sehen sowohl Wähler als auch Politiker die neue Situation?
Im ersten Teil der Veranstaltung gaben die Podiumsgäste ein kurzes Statement dazu ab. So meinte Frau Kastner, der Wähler habe die große Koalition gewollt. Dem kann ich mich nicht anschließen, denn ich habe bei der Wahl mein Kreuz bei einer Partei gemacht und habe damit auch eine Partei gewollt. Und Frau Stamm stellte dann auch richtig, dass die Koalition nur eine Konsequenz der Wahl sei, da die Parteien ja eine Regierung bilden mussten. Dem Land tue es gut, dass die Parteien aufeinander zugehen und sich bemühen müssen.
Um Verständnis für die Schwierigkeiten bei dieser Annäherung bat Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, da die rhetorischen Gräben zwischen den Parteien vor und während des Wahlkampfes so tief waren wie noch nie.
Die Frage, ob es wirklich keine Alternativen bei der Koalition und des Koaltitionsvertrags gab, stellte Bert Unckell. Er kritisierte die Mehrwertsteuererhöhung heftig und sieht als Folge davon, dass die Kaufkraft sinken wird, mehr gespart wird, höhere Lohnforderungen als Kompensation gestellt werden und die Schwarzarbeit noch weiter steigen wird.
Folker Quack zeigte den Wandel der Pressearbeit auf, die vom familiären Zusammenleben im kleinen Bonn zu einem kämpferischen Umgang im großen Berlin gewechselt ist.

(Kurzes Fazit zu den Personen: Frau Kastner kam mir recht unsympathisch und arrogant rüber. Ich weiß nicht, ob sie immer so ist, aber sie erfüllte völlig das Politerklischee. Frau Stamm war gut, sachlich und überraschend unionskritisch. Von Herrn Unckell war nach seinem Statement nichts mehr zu hören. Frau Prof. Dr. M-B-B war wirklich gut, sie hatte die wohl kritischste Sicht und konnte Dinge verständlich machen. Leider hat sie nicht so viel gesagt. Schade. Folker Quack hat mir etwas leid getan, musste er sich als Medienvertreter Vorwürfe gefallen lassen, die doch viel mehr an die Bildzeitung und die Fernsehsender gerichtet waren. Er hat sich aber redlich bemüht.)

Dieser erste Teil war noch recht interessant. Nichts weltbewegendes, aber doch informativ. Doch im zweiten Teil, als die Besucher eigentlich Fragen und Diskussionsbeiträge geben sollten, ging das Drama los. Zuerst waren natürlich die Funktionäre am Mikrophon. Ob Grüne, FDP, ATTAC, jeder musste die Gelegenheit nutzen, ihren politischen und weltanschaulichen Senf dazuzugeben. Allerdings ohne Bezug zum eigentlichen Thema. Und besonders die ATTAC, die ich inhaltlich teilweise gar nicht mal so schelcht finde, hat an diesem Abend bei mir ganz schön Minuspunkte gemacht. Nicht nur, dass der Großteil der Äußerungen am Thema vorbeigingen, auch das ständige Zwischenrufen und Reinreden und teilweise persönliche Eingreifen zeugen für meinen Geschmack für keine reife Streitkultur. Aber der Saal war gut gefüllt mit Leuten, die sich einfach nur mal Auskotzen wollten.
Kann sein, dass ich da zu empfindlich bin, aber wenn Menschen hinter mir ständig, egal welche politische Richtung sich gerade äußerte, am halblaut vor sich hinmotzen sind, macht mich das kirre! Als dann irgendwann irgendwelche Feinstaubvorwürfe vorgetragen wurden, ist mein Hirn beim Wort „Transrapid“ ausgestiegen. Es war schade um die wenigen sinnvolle Diskussionsbeiträge, die in dem Gejammere und Anfeinden ziemlich untergingen, so z. B. die kleine Mutmachrede „Wir sind nicht schlecht!“ von Herrn Rosenthal.
Der Schoppen danach war dringend nötig! 🙂

Die Veranstaltung war nicht wirklich schlecht. Das Podium war einigermaßen gut gewählt (auch wenn es da andere Stimmen gab), die Moderation sympathisch – nur die Besucher waren teilweise nicht so der Knaller.

Das wir bei jeder Fußball-WM und -EM ein Volk von Bundestrainern sind, ist schon schlimm genug. Aber wenn wir auch noch ein Volk von jammernden und kommunikationsgestörten Bundeskanzlern werden, dann gute Nacht!

6 Gedanken zu „Jammern, motzen, informieren – das Stadtgespräch“

  1. In die Fetzerei will ich mich nicht einmischen. Mir geht’s um die Fakten: Eine alleinstehende Person mit HIV (HartzIV) erhält pro Monat im Westen 345 Euro plus Wohn- und Heizgeld, im Schnitt etwa 645 Euro. Ist das Luxus?

    Manche wollen HIV noch deutlich absenken. Die Summe ist angeblich zu hoch, deshalb besteht zu wenig Arbeitsanreiz. Auch die Meinung von PW scheint in die gleiche Richtung zu gehen. Traurig, dass man in Deutschland immer auf die unten eintritt.

    Unrecht an der einen Stelle kann nicht durch Unrecht woanders ausgeglichen werden. Wenn es einem Großteil der Weltbevölkerung dreckig geht, ist das ein Grund, das System zu ändern und nicht alle auf das Niveau absacken zu lassen.

    Bekommen die Aidskranken in Afrika das bei uns mit HIV eingesparte Geld? Werden die Steuergeschenke an die da oben weitergereicht an die da unten in Asien? Kommt der Lohnverzicht der VW-Werker bei den Elenden in Südamerika an?

    Zum Durchschnittsverdienst: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt liegt bei 2,4 Billionen Euro im Jahr. Das sind bei 82 Millionen Einwohnern gut 2.000 Euro pro Monat. Dann müssen wir noch die Großverdiener abziehen, die verzerren das Ergebnis. Gehen wir daher von vielleicht 1800 Euro aus.

    Zur Vermögenssituation: Es gibt 750.000 Millionäre und 14 Milliardäre in D (http://zeus.zeit.de/bilder/2004/40/wirtschaft/millionaere_250.gif und http://www.vwl.uni-essen.de/dt/stat/dokumente/ss04nk_besp.pdf ).

    Wenn jeder Millionär nur eine Million und jeder Milliardär nur eine Milliarde besitzt, sind das 764 Milliarden Euro. Die Brüder Albrecht haben sogar 30 Milliarden (http://www.discountfan.de/artikel/200410/301.php) . Wir aber motzen über HIV-Empfänger. Seltsam.

    Antworten
  2. Wenn man weiß, wer das geschrieben hat, wundert einen das genauso wenig wie die Aktualität des Beitrags.

    Gut, dass wir beide so gut verdienen, dass wir wenigstens jeden Tag satt werden, nicht wahr, Ralf?

    Ich bin übrigens ziemlich sicher, dass ich persönlich weniger verdiene als ein deutscher „Durchschnittsverdiener“ und deshalb eigentlich gut mitsprechen kann – Michael K. meinte wohl die (nicht zu unterschätzenden) „realen Nöte“ der Geringverdiener und Hartz IV-Empfänger.

    Wobei „Nöte“ auch relativ zu betrachten ist – meiner festen Meinung nach geht es einem deutschen Geringverdiener immer noch besser als einem Großteil der Weltbevölkerung – Deutschland jammert halt traditionell auf hohem Niveau.

    Antworten
  3. Der Kommentar zur Main Post-Veranstaltung ist genauso ausgefallen wie das Verhalten, das er (vermeintlich) kritisiert: Zwei Drittel des Kommentars sind fürs Jammern und Motzen reserviert, ein Drittel für die Information.

    So fehlen interessante Punkte wie die liebedienerische, fast unterwürfige Aussage des Main Post-Vertreters Folker Quack, man wolle die Große Koalition konstruktiv begleiten. Man wolle, dass die Große Koalition erfolgreich sei und für das Land etwas tue, sie habe eine Chance verdient. So wolle sich die Main Post mit Kritik erst einmal zurückhalten. Eine unglaubliche Aussage für ein lokales Monopolblatt, was vielleicht einer SED-Zeitung angemessen ist, aber mit Sicherheit nichts mit Pressefreiheit zu tun hat.

    Warum der Kommentator die nichtssagenden Aussagen der Professorin Müller-Brandeck-Bocquet lobt, ist mir schleierhaft. Sie bewegten sich lediglich an der Oberfläche, kamen nicht zum Kern der Problematik. Ein Beispiel: Sie erwähnte die angeblich riesige Kluft im Wahlkampf zwischen Union und SPD, die angeblich noch nie so groß war. Das ist schon alleine faktisch ziemlicher Unsinn, man erinnere sich nur an das heiße Duell zwischen CSU-Strauss und SPD-Schmidt 1980.

    Tatsächlich sind sich CDU/CSU und SPD zum Verwechseln ähnlich geworden mit ihrer arbeitgeberfreundlichen, unsozialen Politik. Die gegenseitige Abgrenzung war reines Wahlkampftheater, deshalb hat man sich seit der Wahl auch leidlich gut vertragen. Im Vergleich zur Anfangszeit von rot-grün (Lafontaine „wurde“ zum Beispiel nach einem halben Jahr „gegangen“) ist das Verhalten von Union und SPD geradezu harmonisch. Warum wohl? Weil man sich im großen und ganzen einig ist.

    Obwohl Herr Unckell vom unternehmerfreundlichen „Bürgerkonvent“ stammte, muss ich zugestehen, dass seine Meinung noch am ehesten volkswirtschaftlich fundiert war. Im Gegensatz zu den zwei Politik-Damen sowie der Professorin hat er keine Phrasen abgesondert, sondern konkret zu den Problemen geredet und großenteils sogar an den richtigen Punkten Veränderungen angemahnt: die für Konjunktur und Verbraucher unzumutbare Mehrwertsteuererhöhung stoppen, alle Gewerbetreibenden in die Gewerbesteuer einbeziehen, bürokratische Regelungen kappen (mit Beispielen!). Anstatt auf Arbeitnehmer und Gewerkschaften einzuhauen, forderte er mehr öffentliche Investitionen statt Steuersenkungen, die ohnehin wenig bringen würden. Eine derart fundierte Meinung habe ich von Wirtschaftsvertretern schon länger nicht mehr gehört.

    In einem Punkt stimme ich dem Kommentator zu: Frau Stamm war eine angenehme Überraschung, vor allem im Gegensatz zum abgehobenen, fast unverschämten Auftritt Frau Kastners. Die 57-jährige Pfarrersehefrau Kastner erhält als Bundestagsvizepräsidentin (sechs Stück davon gibt’s!) über 13.000 Euro pro Monat und hat es daher leicht, die radikalen und unsozialen Reformen der SPD als „notwendiges Übel“ darzustellen. Zugleich will sie einen auf „sozial“ machen: links blinken, rechts abbiegen – der übliche Stil bei der SozPeDe. Auf ihre niveaulosen Gegenangriffe bei kritischen Fragen kann ich mich nur wundern, das ist einfach kein Niveau.

    Dass angesichts dieser lauen Runde Unmut im Publikum aufkam, ist kein Wunder und liegt an der schwachen Gesprächsführung sowie der inhaltlich fruchtlosen Debatte über Nebensächlichkeiten auf dem Podium. Wesentliche Punkte wurden einfach ausgeklammert – zum Beispiel der Wahlerfolg von Linkspartei und FDP. Frecherweise meinte Frau Kastner, der Wähler hätte eine Große Koalition gewollt. Nichts ist falscher als das. Vielmehr wurden SPD/Grüne abgewählt und eine noch radikalere Politik einer Union/FDP-Koalition wollte die Wählerschaft erst recht nicht. Noch nie seit 1949 haben die beiden Großen Parteien so wenige Stimmen erhalten. Doch bei der ranschmeißerischen Main Post (siehe die Aussagen von Folker Quack) durften sie sich sogar als Wahlsieger feiern.

    Auf dem Podium saßen nur saturierte Spitzenverdiener. Die Wahl entschieden haben aber – Zitat von Edmund Stoiber – „die Frustrierten“ aus Ost- und Westdeutschland. Diese Veranstaltung war ein Hohn für alle politisch Interessierten, die tatsächliche Antworten auf die drückenden sozialen Probleme erwarteten. Dass der Kommentator diesen „Ringelpiez mit Anfassen“ lobt und die Kritik daran abwatscht (attac, FDP, Grüne), kann ich mir nur damit erklären, dass er zu der satten und mutmaßlich gutverdienenden Mehrheit des Publikums gehörte, das von den realen Nöten der Durchschnittsverdiener schon weit abgehoben ist.

    Antworten
  4. Zwei Anmerkungen:

    1. Für das Thema war der Saal gut gefüllt, es sind auch selten mehr beim Stadtgespräch..

    2. Kann im Großen und Ganzen alles so unterschreiben, wie du es dargestellt hast (nur dass ich schon vorher die attacer nicht so dolle fand), nur eine kleine Kleinigkeit:

    Susanne Kastner wurde nicht frisch in das SPD-Präsidium gewählt, sondern wiedergewählt.

    Die Biere danach waren dringend nötig!! Ich hoffe, in deiner Tasche war noch alles drin 😉

    Antworten

Schreibe einen Kommentar